Das Deutschtum im Ausland (Dezember 1912)

Die südslawische Gefahr und das Deutschtum

Von Alfred Geisler - Berlin.

Seit Monatsfrist verfolgt Europa mit atemloser Spannung das Fortschreiten des furchtbaren Kriegsbrandes, der die letzten Trümmer des einst so stolzen Herrschaftsbaues der Osmanen auf europäischem Boden zu vernichten droht, dessen Flammen, nur mühsam gehemmt durch den letzten Verteidigungswall der Türken, gegen die zerbröckelnden Mauern des alten Byzanz heranzüngeln. Werden die Gluten den ringsum lagernden Zündstoff ergreifen und das furchtbare Unwetter eines europäischen Krieges herbeiführen? Diese Frage erregt gegenwärtig mit jedem Tage stärker die Seele der Völker. Vielleicht sind die Würfel der Entscheidung bereits gefallen, wenn diese Zeilen in die Hand unserer Leser kommen. Sollte es dann das Schicksal gefügt haben, daß auch das friedliebende Deutsche Reich zum Schwert greifen müßte, so erhebt sich die gewaltige Frage: Was ist für uns der tiefste Grund und das höchste Ziel dieses Kampfes? Es wäre ein Verhängnis, wenn das deutsche Volk das Schwert in dem Glauben ziehen müßte, es gehe nur um einen kleinen serbischen Hafen am adriatischen Meere, - wenn es nicht begriffe, daß es sich um eine Lebensfrage auch des deutschen Reichsvolkes bei einem solchen Kriege handele. - Es scheint mir eine ernste Pflicht, des deutschen Volkes Aufmerksamkeit - vielleicht in letzter Stunde - auf die schweren Probleme zu lenken, die sich hinter der scheinbar unbedeutenden Streitfrage um das "Fenster" an der Adria bergen, darauf hinzuweisen, daß der Ausbruch eines solchen Krieges ein Schicksalskampf sein würde, dem eine weltgeschichtliche nationale Gegnerschaft zugrunde liegt - die zwischen Deutschen und Slawen!
Noch vor kurzem ist von amtlich hervorragender Stelle das Wort gefallen: Kriege können heutzutage nur noch aus wirtschaftlichen Gegensätzen entstehen. Wenige Wochen später hat der Sturm des Balkankrieges dieses Wort wie ein welkes Blatt in die Lüfte gewirbelt. Ein anderes Wort eines leitenden Staatsmannes wies darauf hin, daß in der Gegenwart nicht mehr der Wille der Regierungen, sondern der Wille der Völker die Kriege mache. Aber fast nirgends kommt die Erkenntnis zu klarem Ausdruck, daß in den Völkern triebhafte, elementare Kräfte der Anziehung und Abstoßung lebendig sind, die nicht durch Berechnung von Nutzen oder Schaden, nicht durch wirtschaftliche Gesichtspunkte im letzten Ende bestimmt werden, sondern durch Imponderabilien der Völkerpsyche, die gerade von der offiziellen Politik so leicht unterschätzt werden. Und doch, wie hat es ein Bismarck verstanden, den seit Jahrhunderten im deutschen Herzen schlummernden Drang nach nationaler Einigung zum Siegesmotto des großen Krieges von 1870/71 zu machen! Wie hat der kluge Skeptiker auf dem Bulgarenthron gegenüber den Volksmassen der Balkanslawen den geschichtlichen, religiösen und rassenmäßigen Gegensatz gegen das Türkentum einerseits, das starke Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit mit den "unerlösten" slawischen Brüdern in Mazedonien anderseits, zu nützen gewußt, um in ihnen leidenschaftlichen Kriegszorn und Siegerwillen zu wecken.
Zu diesem Kriege drängte, in ihm triumphiert jenes Nationalitätenprinzip, das immer mehr zum beherrschenden Kennzeichen im Völkerleben unserer politisch bewegten und gärenden Zeit wird. Von ihm geleitet drängen die bluts- und sprachverwandten Stämme immer stärker nach völkischer Einigung über die bestehenden, wandelbaren Staatsgrenzen hinweg. Dieser Nationalitätengedanke schafft selbst da, wo an eine politische Einigung der staatlich getrennten Volksteile gleicher Art nicht oder noch nicht gedacht wird, ein Gemeinschaftsempfinden von solcher Stärke, daß die Staatskunst unserer Tage mit ihm ernstlich rechnen muß. Keine Völkerfamilie aber ist so stark von solchem Gemeinschaftsgefühl erfüllt wie die slawische, in deren ungeheueren Massen die Eigenart des Einzelnen mit ihren Hemmungen schwächer entwickelt ist, als etwa bei uns Deutschen, und deren Herdensinn daher leichter und stärker der Massensuggestion einer elementaren Empfindung unterliegt. So ist die allslawische Bewegung entstanden, die von Moskau bis Sofia als letztes Ziel den Zusammenschluß aller Slawen und damit die Vorherrschaft der slawischen Welt in Ost- und Mitteleuropa erstrebt. Sie kann naturgemäß nur im siegreichen Kampf gegen die Nation durchgesetzt werden, die heute ihren Zielen im Wege steht - gegen die deutsche. Vielleicht ist es ein Verhängnis für unser Volk, daß in seiner geschlossenen Hauptmachtstellung, im Deutschen Reich, Bedeutung und Ernst dieser slawischen Angriffsbewegung bei weitem nicht genügend erkannt und gewürdigt werden.
Wir Reichsdeutsche sind überwiegend noch so sehr im ausschließlich staatspolitischen Denken befangen, daß wir bei der Steuerung unseres politischen Schiffes im Völkermeer wohl Winde und Gegenwinde beachten, die dessen Oberfläche kräusln, nicht aber die gewaltigen Unterströmungen der Tiefe, die vom Wandel der Oberfläche unbeirrt bleiben. Wir haben uns auch so daran gewöhnt, die Entscheidungen über die Geschicke der Staaten nur im Kampf auf den Schlachtfeldern zu suchen, daß wir den unaufhörlichen, keinen Waffenstillstand, keinen Frieden kennenden Kampf nicht beachten, der an den Grenzen unseres Volkstums um jede Stadt und jedes Dorf, um jede Scholle Ackers und jeden Fußbreit Weges, nicht zum letzten aber um jede Kindesseele angefochten wird, diesen Kampf um den Bestand des Volksbodens und der Volksart, in dem auf kulturellem und wirtschaftlichem Felde das Slawentum bereits seit Generationen ohne Unterlaß angreifend gegen das Deutschtum vordrängt.
Das ist für uns die unvergleichliche Bedeutung des österreichisch-ungarischen Staates, daß er einmal als Zwischenglied den ersten Stoß des slawischen Angriffs von Südosten her auffängt, und daß zu zweit in ihm selbst eine Füll slawischer Angriffskräfte durch den Nationalitätengegensatz innerhalb seiner Reichsgrenzen gleichsam ausgeglichen und verzehrt werden. Demgemäß ist das Millionendeutschtum in Österreich, abgesehen davon, daß es den an sich stärksten Außenposten deutscher Art und Sprache in Europa darstellt, für uns unersetzlich, weil von seinem Fortbestand und Einfluß die Leistungsfähigkeit des österreichischen Staatsganzen im obigen Sinne abhängt. Jede Stärkung des Slawentums auf österreichischem Boden mindert deshalb den Wert des Nachbarstaates als unseren Bundesgenossen und gefährdet in natürlicher Folge die zentrale Machtstellung des deutschen Volkes im Reich!
Unter solchen Gesichtspunkten gewinnen die eingetretenen und die kommenden Veränderungen auf dem Balkan eine besondere und gefahrdrohende Bedeutung. Bisher ging die Vorwärtsbewegung des Slawentums gegen das Deutschtum im allgemeinen nur von den Nordslawen aus, Polen und Tschechen waren ihre Träger. Die letzteren wurden dabei wohlwollend gefördert von Rußland als der slawischen Vormacht, deren Volksmassen unbeirrt von periodischen Schwankungen der amtlichen Politik mit ganzem Herzen im allslawischen und deutschfeindlichen Lager stehen.
Im Süden der habsburgischen Doppelmonarchie war das ihr zugehörige Slawentum zersplittert, ihm fehlte der Rückhalt an einer starken slawischen Macht außerhalb der Reichsgrenzen. Der Kampf des kleinen fanatischen Slowenenstammes gegen die deutschen Minderheiten in Südsteier und Krain bildete eine Einzelerscheinung.
Durch das erfolgreiche Hervortreten des Balkanbundes ist hier mit einem Schlage die Lage für unsere Volksinteressen verhängnisvoll gewandelt. Aus den Siegen der Bulgaren, Serben und ihren Verbündeten auf den Schlachtfeldern Mazedoniens erwuchs für das Deutschtum die südslawische Gefahr. Ihre Bedeutung ergibt sich aus dem vorher Dargelegten. Slawische Bluts- und Interessengemeinschaft, slawische Teilnahme für das Schicksal ihrer Brüder in Mazedonien haben die Südslawen der Balkanhalbinsel zum Bündnis und zum Angriffskriege gegen die Osmanen getrieben. Triumphierend schicken sich die Sieger an, die Beute zu teilen. Ein Teil des sagenhaften Herrscherglanzes, der die großbulgarischen und großserbischen Reiche des Mittelalters umwob, strahlt heute auch von der Krone des Königs der Bulgaren und Peters von Serbien. Die Südslawen der Balkanhalbinsel, geeint und frei, schicken sich an, als eine slawische Großmacht in dem europäischen Völkerrat Sitz und Stimme zu fordern. Jedoch, die größere Hälfte dieser Südslawen wohnt nicht in den Grenzen des jungen Staatsgebildes, sondern im alten Habsburgerstaat.
In dieser wenig beachteten Tatsache liegt der Kern der ganzen südslawischen Frage. Durch sie wird diese zur offenbaren Gefahr!
Die Zahl der Serbokroaten auf österreichisch-ungarischem Boden setzt sich zusammen aus
Kroaten (in Kroatien, Slawonien und dem Küstenland) 3333000 Bosnien (in Bosnien und der Herzegowina) ..... 1520000
zusammen 4853000.
Diesen stehen auf der Balkanhalbinsel an Serben gegenüber (im Königreich Serbien, Königreich Montenegro
und Altserbien) nur ........ ...... 3147000.
Zählt man zu den österreichischen Serbokroaten noch die Slowenen mit 1500000 Köpfen als Südslawen hinzu, so weist die Donaumonarchie insgesamt 6353000 Südslawen auf, die mit ihren Sympathien uneingeschränkt auf der Seite ihrer serbischen Balkanbrüder stehen.
Serben im Königreich und im Sandschak - Montenegriner - Kroaten in Kroatien, Slawonien und Dalmatien - Bosniaken, Serben und Herzegowzen im jüngsten Kronland Österreichs - sie alle sind gleichen Blutes, gleicher Sprache, Art und Sitte: sind Serbokroaten, geschieden nur durch die Wälle der konfessionellen Gegensätze und die Gräben der Staatsgrenzen. Noch vor wenigen Jahren waren diese Wälle so stark, daß die römisch-katholischen Kroaten den Serben der griechisch-orientalischen Kirche feindlich gegenüberstanden, seitdem aber hat der geigende Wellenschlag des nationalen Gedanken, verstärkt durch den Einfluß der allslawischen Idee, diese Wälle zerbröckelt; der Stolz auf die Siege der Balkanbrüder wird ihre letzten Reste hinwegfegen. Und die Gräben der Staatsgrenzen? Vor drei Jahren, als das Königreich Serbien, offenbar gestützt auf die russischen Sympathien, Anstalt machte, sich der Einverleibung Bosniens in Österreich zu widersetzen, weil sie seine großserbischen Hoffmmgen durchkreuzte, brachen tschechische Reservisten in Prag bei der Mobilmachung in Hochrufe auf Serbien aus, und soeben erlebte Wien slawische Studentendemonstrationen der gleichen Art. Im vorigen Jahre war der Verfasser Augenzeuge des geradezu frenetischen Jubels, mit dem in Kroatiens Hauptstadt Agram bei einer großen altslawischen Sokolfeier die in Sonderzügen eingetroffenen Sokols aus Belgrad und Sofia begrüßt wurden; damals, kurz nach dem österreichisch-serbischen Konflikt, rief ihnen das Stadthaupt Agrams zu, er hege die Hoffnung das nächste mal die serbischen Brüder in einem wirklich freien Kroatien begrüßen zu können! Viel Hunderte von kroatischen Freiwilligen aus den österreichischen Landen sind den Serben im letzten Kriege zu Hilfe geeilt. Auf dem Marktplatz Agrams mußte erst vor wenigen Wochen die Polizei mit blanker Waffe gegen kroatische Studenten vorgehen, die mit Hochrufen auf "König Peter von Kroatien" demonstrierten und in Dalmatien (!) erließen soeben mehrere hundert kroatische Gemeindevorsteher eine Kundgebung zugunsten ihrer "Brüder in Serbien". In österreichischen Regierungskreisen hat man bis letzthin den Kroaten Vorschub geleistet, sie zur Verdrängung des Italienertums an der dalmatinischen Küste benutzt, weil man in ihnen den treuen Anhänger der schwarzgelben Fahne sah, der einst dem Kaiserhause im Kampf gegen die madjarischen Revolutionsherren wertvolle Dienste geleitet. Man bedachte nicht, daß weniger Kaisertreue als Rassenhaß gegen das Madjarentum die Triebfeder dieser Waffengefolgschaft gewesen. Bis vor kurzem noch wurde mit dem Gedanken des "Trialismus" gespielt, der Serbo-Kroaten, Bosniaken und Slowenen in einem südslawischen selbständigen Reichsdrittel zusammenfassend, den Habsburgerstaat gegen den Balkan decken und womöglich eine starke Anziehungskraft auf den Balkanslawen ausüben sollte. Die serbischen Siege haben die Verhältnisse umgekehrt sich entwickeln lassen. Heute muß es für den österreichischen Staat ernste Sorge sein, daß die Anziehungskraft der Balkansieger auf seine südslawischen Volksbestandteile nicht seinen eigenen Besitzstand gefährdet!
Ein kriegerisch erstarkter südslawischer Balkanbund, der wie ein Riegel Österreichs wirtschaftliche Ausdehnung nach Süden hin abzusperren vermag, eine eigene südslawische Grenzbevölkerung, die mit Kopf und Herz den Brüdern in diesem Balkanbund zustrebt und infolgedessen die Entschlußkraft und Kampfstärke des österreichischen Staates lähmt, - das ist die gefährdete politische Lage, in der sich der österreichische Staat den Südslawen gegenüber befindet.
Für das österreichische Deutschtum kommt hinzu, daß diese Lage, wie auch immer sie sich entwirren möge, seine Stellung im Staat schädigen muß. Geht die österreichische Regierung daran, die Treue ihrer Südslawen sich durch Versprechungen und Entgegenkommen in nationaler Hinsicht zu sichern, so kann dies nur auf Kosten der Deutschen geschehen. Würde Österreich im Falle eines siegreichen Krieges seinen Besitzstand nach Süden vermehren, so hätte das wiederum eine verhängnisvolle Machtsteigerung des Slawentums im Staate zur Folge, das heute schon mit 60 % der Gesamtbevölkerung den 36 % Deutsch-Österreichern gegenübersteht.
Für das Gesamtdeutschtum endlich ergibt sich in völkischer politischer Hinsicht die gefahrdrohende Tatsache, daß die Erfolge der Bulgaren, Serben und Montenegriner nunmehr auch südlich des verhältnismäßig schmalen Bandes vom deutschen, madjarischen und rumänischen Volkstum, das in Österreich die Nord- und Südslawen trennt, einen starken, selbstbewußten und aktiven Staatenbund geschaffen haben. Und von diesem Bunde steht gerade der Teil, der auf Österreichs Südslawen die stärkte nationale Anziehungskraft ausübt, Serbien, im Bann des russischen Einflusses. Schon vor zwei Jahrzehnten brachte das Drama eines montenegrinischen Dichters folgende Prophezeiung.
Ihr sollt aus diesen Bergen
Ein neues stolzes Serbenreich errichten.
Doch wird´s nicht eher euch gelingen, bis
Im Norden ihr den großen Bruder findet!
Das Heilige Rußland wird wie eine Mutter
Für euch den Bruder liebend auferziehen.
Die Welt wird staunen über seine Taten,
Und niemand wird aus Furcht vor seiner Stärke
Euch künftig zu beleidigen wagen!
Der Verfasser dieses Dramas war - König Nikita von Montenegro!
Käme es dazu, daß Österreich-Ungarn sich mit Waffengewalt der slawischen Umklammerung von Nord und Süd her zu erwehren entschlösse, so würde es in einen Kampf gehen, dessen Ausgang darüber entscheiden wird, ob dem Deutschtum noch eine Zukunft in Mitteleuropa beschieden ist oder ob es dort der Flutwelle des ziffernmäßig übergewaltig andrängenden Slawentums erliegen muß.