Generalfeldmarschall von Hindenburg

 

Unser Gegenangriff

Der neue Plan gründet sich auf folgende Erwägung: Würden wir in der jetzigen Aufstellung den Angriff der gegenüberstehenden 4 russischen Armeen frontal abzuwehren versuchen, so würde der Kampf gegen die erdrückende Übermacht wohl ebenso verlaufen wie vor Warschau. Schlesien ist also auf diese Weise vor dem Einbruch des Gegners nicht zu retten. Diese Aufgabe ist nur im Angriff zu lösen. Ein solcher, gegen die Stirnseite des weit überlegenen Gegners geführt, würde einfach zerschellen. Wir müssen ihn gegen die offene oder bloß schwach gedeckte feindliche Flanke zu richten suchen. Eine ausholende Bewegung meiner linken Hand illustrierte bei der ersten Besprechung diesen Gedanken. Suchen wir den feindlichen Nordflügel in der Gegend von Lodz, so müssen wir unsere Angriffskräfte bis nach Thorn verschieben. Zwischen dieser Festung und Gnesen wird also unser neuer Aufmarsch geplant. Wir trennen uns damit weit vom österreichisch-ungarischen Heeresflügel. Nur noch schwächere deutsche Kräfte, darunter das hart mitgenommene Landwehrkorps Woyrsch, sollen in der Gegend von Czenstochau belassen werden. Vorbedingung für unseren Linksabmarsch ist, daß das k. u. k. Armeeoberkommando an die Stelle unserer nach Norden abrückenden Teile in die Gegend von Czenstochau 4 Infanteriedivisionen aus der zur Zeit nicht bedrohten Karpathenfront heranbefördert.
Durch unseren neuen Aufmarsch bei Thorn - Gnesen werden die gesamten verbündeten Streitkräfte im Osten in 3 große Gruppen verteilt. Die erste wird gebildet durch das österreichisch-ungarische Heer beiderseits der oberen Weichsel, die beiden anderen durch die 9. und 8. Armee. Die Zwischenräume zwischen diesen drei Gruppen können wir durch vollwertige Kampftruppen nicht schließen. Wir sind gezwungen, in die etwa 100 km breite Lücke zwischen den Österreichern und unserer 9. Armee im wesentlichen neuformierte Verbände einzuschieben. Diese besitzen an sich schon geringere Angriffskraft und müssen noch dazu an der Front einer mächtigen russischen Überlegenheit sich so breit ausdehnen, daß sie eigentlich nur einen dünnen Schleier bilden. Rein zahlenmäßig beurteilt, brauchen die Russen gegen Schlesien nur anzutreten, um diesen Widerstand mit Sicherheit zu überrennen. Zwischen der 9. Armee bei Thorn und der 8. Armee in den östlichen Gebieten Ostpreußens befandet sich im wesentlichen nur Grenzschutz, verstärkt durch die Hauptreserven aus Thorn und Graudenz. Auch diesen Truppen gegenüber steht eine starke russische Gruppe von etwa 4 Armeekorps nördlich von Warschau auf dem rechten Ufer der Weichsel und des Narew. Diese russische Gruppe könnte, wenn sie über Mlawa angesetzt würde, die Lage, wie sie sich Ende August vor der Schlacht bei Tannenberg entwickelt hatte, nochmals wiederholen. Das Rückengebiet der 8. Armee scheint also erneut und bedenklich bedroht. Aus dieser Lage in Schlesien und Ostpreußen soll uns der Angriff der 9. Armee gegen die nur schwach geschützte Flanke der russischen Hauptmassen in Richtung Lodz befreien. Es ist klar, daß diese Armee, wenn ihr Angriff nicht rasch durchdringt, die feindlichen Massen von allen Seiten auf sich ziehen wird. Diese Gefahr ist um so größer, als wir weder zahlenmäßig hinreichende, noch auch genügend vollwertige Truppen haben, um sowohl die russischen Heeresmassen im großen Weichselbogen als auch die feindlichen Korps nördlich der mittleren Weichsel durch starke, durchhaltende Angriffe frontal zu fesseln oder auch nur auf längere Zeitspanne hinaus zu täuschen. Wir werden freilich trotz alledem überall unsere Truppen zum Angriff vorgehen lassen, aber es wäre doch ein gefährlicher Irrtum, hiervon sich allzuviel zu versprechen.
Was an starken, angriffskräftigen Verbänden irgendwo freigemacht werden kann, muß zur Verstärkung der 9. Armee herangeholt werden. Sie führt den entscheidenden Schlag. Mag die 8. Armee noch so bedroht sein, sie muß 2 Armeekorps zugunsten der 9. abgeben. Die Verteidigung der erst vor kurzem befreiten Provinz kann unter solchen Verhältnissen freilich nicht mehr an der russischen Landesgrenze durchgeführt werden, sondern muß in das Seengebiet und an die Angerapp zurückverlegt werden; ein harter Entschluß. Die Gesamtstärke der 9. Armee wird durch die geschilderte Maßnahme auf etwa 5½ Armeekorps und 5 Kavalleriedivisionen gebracht. Zwei von letzteren werden aus der Westfront herangeführt. Weitere Kräfte glaubt die Oberste Heeresleitung trotz unserer ernsten Vorstellungen dort nicht freimachen zu können. Sie hofft in dieser Zeit immer noch auf einen günstigen Ausgang der Schlacht bei Ypern. Die Schwierigkeiten des Zweifrontenkrieges zeigen sich erneut in ihrer ganzen Größe und Bedeutung.
Was auf unserer Seite an Kräften fehlt, muß wieder durch Schnelligkeit und Tatkraft ersetzt werden. Ich bin sicher, daß in dieser Beziehung das Menschenmögliche von seiten der Armeeführungen und Truppen geleistet werden wird. Schon am 10. November steht die 9. Armee angriffsbereit, am 11. bricht sie los, mit dem linken Flügel längs der Weichsel, mit dem rechten nördlich der Warthe. Es ist hohe Zeit, denn schon kündet sich an, daß auch der Gegner vorgehen will. Ein feindlicher Funkspruch verrät, daß die Armeen der Nordwestfront, d. h. also alles, was von russischen Kräften von der Ostsee bis einschließlich Polen steht, am 14. November zu einem tiefen Einfall in Deutschland antreten sollen. Wir entreißen dem russischen Oberbefehlshaber die Vorhand, und als er am 13. unsere Operationen erkennt, wagt er nicht, den großen Stoß gegen Schlesien durchzuführen, sondern wirft alle verfügbaren Kräfte unserem Angriff entgegen. Schlesien ist damit vorläufig gerettet, der erste Zweck unserer Operation ist erreicht. Werden wir darüber hinaus eine große Entscheidung erringen können? Die feindliche Übermacht ist allenthalben gewaltig. Trotzdem erhoffe ich Großes!
Es würde den Rahmen dieses Buches überschreiten, wollte ich nunmehr einen, wenn auch nur allgemeinen Überblick über die Kampfereignisse, die unter der Bezeichnung "Schlacht bei Lodz" zusammengefaßt sind, geben.
In dem Wechsel zwischen Angriff und Verteidigung, Umfassen und Umfaßtsein, Durchbrechen und Durchbrochenwerden zeigt dieses Ringen auf beiden Seiten ein geradezu verwirrendes Bild. Ein Bild, das in seiner erregenden Wildheit alle die Schlachten übertrifft, die bisher an der Ostfront getobt hatten!
Es war uns im Verein mit Österreich-Ungarn gelungen, die Fluten halb Asiens abzudämmen.
Die Kämpfe dieses polnischen Feldzuges endeten aber nicht bei Lodz, sondern wurden auf beiden Seiten weiter genährt. Neue Kräfte kamen zu uns vom Westen heran, doch nur wenig frische, meist solche mit gutem Willen, aber mit halbverbrauchter Kraft. Sie waren zum Teil herausgezogen aus einem ähnlich schweren, ja vielleicht noch schwereren Ringen, als wir es hinter uns hatten, nämlich aus der Schlacht bei Ypern. Wir versuchten trotzdem, mit ihnen die abgedämmte russische Flut zum Zurückweichen zu bringen. Und wirklich schien es eine Zeitlang, als ob uns dies gelingen würde. Unsere Kräfte zeigten sich jedoch schließlich auch jetzt, ähnlich wie in den Kämpfen von Lodz, als nicht ausreichend genug für dieses Ringen gegen die ungeheuerste Überlegenheit, die uns jemals auf dem Schlachtfelde gegenüberstand. Wir hätten mehr leisten können, wenn die Verstärkungen nicht so tropfenweise eingetroffen wären, wir also vermocht hätten, sie gleichzeitig einzusetzen. So aber bewegte sich der ungeheure slawische Block, den wir nach Osten hinrollen wollten, nur noch eine Strecke weit, dann lag er wieder still und unbeweglich. Unsere Kraft ermattete, sie ermattete aber nicht nur im Kampfe, sondern auch - im Sumpfe.
Erst der eingetretene Winter legte seine lähmenden Fesseln um die Tätigkeit von Freund und Feind. Die im Kampfe schon erstarrten Linien deckte Schnee und Eis. Die Frage war: Wer wird diese Linien in den kommenden Monaten zuerst aus ihrer Erstarrung lösen?

 

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